Das Leben ist wie ein Buch: Wer nicht reist, liest immer nur die selbe Seite.

Dienstag, 11. Januar 2011

Am Strand mit den Kindern




Die Organisation Circa besitzt an der Pazifikküste im kleinen Ort Mejia ein Ferienhaus, das im peruanischen Sommer (Januar und Februar) von den Kindern der Kinderheime, den Direktoren der Schulen, den Müttern der Schulkinder und anderen Gruppen besucht wird. Für die Jüngsten und die Mädchen der Kinderheime ging es vom 3. bis zum 9. Januar dorthin. Viele der Kinder kennen die Stadt Arequipa selbst sehr wenig, weil sie sich ständig in ihrem Kinderheim oder dessen Umgebung aufhalten. Man kann sich also vorstellen wie groß ihre Freude war, als sie endlich um fünf in der früh in den gelben Circa-Combi einsteigen durften um zum Strand zu fahren. In zwei Busse, die jeweils 30 Personen halten, mussten 90 Personen passen. So wurden die Kleinsten auf den Schoß genommen und sonst zwei Sitze von drei Personen besetzt. Damit sich die kleinen Kinder während der zweistündigen Fahrt nicht übergeben, wird ihnen hier in Peru ein Stück Zeitung auf den Bauch gelegt. Diese Methode hat leider nicht bei jedem Kind geklappt und so waren ich und die zwei anderen peruanischen Begleitungen Daniela und Maria ständig damit beschäftigt nach Plastiktüten zu suchen oder kleine aufgeregte Kinder zu beruhigen. Die Reise an die Pazifikküste geht durch die Wüste und die Kinder hingen mit ihren Nase an den Fensterscheiben, um die rot-, gelb-, weiß- und graufarbenen rießigen Berge zu bewundern. Es war wunderschön sie zu beobachten wie sie sich über den Anblick des Meers gefreut haben („Stimmts Señorita Judith, das Meer ist sehr, sehr groß?!“) und bei jeder großen Welle ein lautes Ooooohhh durch den Bus ging.
Endlich im Ferienhaus angekommen wurden die Mädchen in acht Gruppen und ihre Zimmer eingeteilt, wobei die Ältesten jeder Gruppe jeweils die Verantwortlichen und die Betreuer der Jüngeren waren. Zusammen mit Daniela und Maria habe ich in dieser Woche hauptsächlich die 14 Kleinsten (3-6 Jahre) betreut. Das hieß konkret: Die Kinder morgens aufzuwecken, wenn sie nicht schon längst seit 5 Uhr auf mir herumturnen, sie anzuziehen, ihre Nasen zu putzen, sie auf die Toilette zu begleiten, ihre Häufchen, die aufgrund von Zeitmangel auf dem Kloboden und nicht im Klo gelandet sind, aufzuputzen, regelmäßig vollgepinkelte Matratzen nach draußen zu bringen, ihnen bei den Mahlzeiten das Essen auszuteilen und sie zu füttern, sie am Strand einzucremen und darauf zu achten, dass sie immer ihren Sonnenhut aufhaben und nicht allein ins Meer gehen, ihnen aus Sand Löwen und Katzen zu bauen, ihnen Prinzessinnen, Prinzen, Bären, Schweine und Blumen zu malen, sie davon abhalten sich ständig zu schlagen und sie zu trösten, falls es doch dazu kommt und geweint wird, sie zu schimpfen, wenn sie auch mich schlagen, ihnen Kaugummis, die sie auf dem Kloboden gefunden haben, mit großem Widerstand seitens der Kinder aus dem Mund zu nehmen, mit ihnen Engelchen, Engelchen Flieg und Hopper, Hopper Reiter bis zum Erbrechen zu spielen, sie nach dem Mittagessen zum Mittagsschlaf und abends -selbst ganz erschöpft- ins Bett zu bringen.
In jedem Bett schliefen jeweils vier Kinder und jede der drei Betreuerinnen hatte ihr eigenes Bett. Gleich die erste Nacht verlief nicht ganz ruhig, als der kleine 4- jährige Luis sich aufsetzte, weinte und nach seiner Mutter schrie. Er und seine zwei Geschwister sind seit einiger Zeit in den Kinderheimen Circas untergebracht, weil ihre Mutter verstorben ist. Daniela hat versucht ihn von ihrem Bett aus mit Worten (teilweise auch streng) zu beruhigen, denn die Kinder müssen auf Dauer lernen mit ihrer Situationen umzugehen. Als er nach 10 Minuten immer noch nicht aufhörte zu weinen, holte ich ihn in mein Bett und sobald er in meinen Armen lag, beruhigte er sich sehr schnell wieder und schlief ein. Seit diesem Tag läuft er mir ständig hinterher, umarmt mich, krabbelt auf mir herum und nennt mich manchmal sogar mamá Judith. Es ist wunderschön und auch eine Ehre, dass einige der Kinder mich als eine Mama ansehen, ich möchte aber diese Position nie einnehmen, weil ich eben doch nur noch fünf weitere Monate hier bleibe und so weise ich die Kinder jedes Mal liebevoll darauf hin, dass ich nicht ihre Mama bin, sondern ihre amigita, ihre kleine Freundin.

Die Leitung Señorita Cecilia

Die Hauptverantwortliche für das Camp war die dicke Señorita Cecilia, die Leiterin eines Mädchenkinderheims und eine der unsympatischsten Menschen, die mir je über den Weg gelaufen sind. Jedes der Kinder hatte großen Respekt und einige auch Angst vor ihr, weil sie stets in einem sehr strengen und bestimmten Ton mit den Kindern redete. Um die Aufmerksamkeit der Kinder zu bekommen pfiff sie entweder mit ihre Trillerpfeife oder brüllte laut mit ihrem rießen Organ; ein bisschen so, wie man sich das beim Militär vorstellt. Gelacht hat sie insgesamt sehr wenig und ständig die Kinder auf eine Art und Weise beobachtet, ob würde sie nur darauf warten, dass einer etwas falsch macht und sie wieder ihre Stimme erheben kann. Sogar ich hatte teilweise Angst, dass ich irgendeinen Fehler machen könnte und so fühlte ich mich immer wohler, wenn ich von ihr weiter weg war. Wegen ihrem Verhalten gegenüber den Kindern war ich mir sicher, dass sie bestimmt auch mal zuschlägt, wenn nicht gespurt wird.
Eine der jüngsten Mädchen von Circa, die 4-jährige RubÍ ist seit einigen Wochen bei uns und hat sich noch nicht an das Leben ohne ihre Eltern und den ganzen neuen Betreuern gewöhnt. Wahrscheinlich deswegen verlor sie den Appetit und wir als Betreuer mussten sie jeden Tag regelrecht dazu zwingen wenigstens ein bisschen von ihrem Reis zu essen. Señorita Cecilia bekam das natürlich mit und rief das Kind irgendwann zu sich und schrie sie an, dass sie doch gefälligst essen soll; wenn nicht dann wird sie ihr dabei helfen. Das kleine Mädchen hat sich daraufhin immer noch den Mund zugehalten als wir versuchten ihr den Löffel in den Mund zu stecken und so hat die Leiterin RubÍ am Arm gepackt und sie in ein Nebenzimmer geschliffen. Ich selbst wusste in dieser Situation nicht wie ich mich verhalte sollte, konnte aber nicht davon ablassen immer wieder in das Zimmer zu schauen. Sie hatte die Tür aufgelassen und die beiden saßen so am Tisch, dass auch eine der Circa-Chefinnen sie beobachten konnte. Ich hätte wetten können, dass sie das kleine Mädchen schlagen wird oder ihm zumindest einen Klaps verpasst, aber die beiden saßen einfach nur am Tisch und das Mädchen ließ sich füttern.
Seit diesem Erlebnis hat sich mein Bild von der Leiterin geändert und die folgenden Tage, habe ich nicht nur darauf geachtet wie oft sie herumschreit, sondern auch wie sie manchmal die Kleinen in den Arm nimmt oder mit den Kindern lacht. Am Ende der Woche habe ich beim Frühstück meine Milch verschüttet und anstatt mir einen strengen Blick zuzuwerfen -wie sie das bei den Kindern gemacht hätte-, lachte sie nur und meinte, dass wir wohl seit heute ein neues Kind unter uns haben.
Auf den ersten, zweiten und auch den dritten Blick verurteilt man hier die Leitungen, Lehrer und Betreuer sehr schnell wegen ihrem strengen und teilweise harten Umgang mit den Kindern. Was man aber dabei vergisst zu bedenken ist, dass die Kinder aus ihren Elternhäusern einen noch viel schrofferen Umgang gewöhnt sind und deswegen oft nur so auf Erwachsene hören. Und, dass bei fünf Betreuern und 85 Kindern eben des öftern die Stimme erhoben werden muss, um alle unter Kontrolle zu halten, habe ich jetzt auch eingesehen.

Unser Tagesablauf


So gegen sechs Uhr steht die Chefin des Camps auf dem Balkon und pustet in ihre Trillerpfeife. Ab diesem Zeitpunkt haben die Mädchen so um die 20 Minuten Zeit, um sich anzuziehen und die Haare zu kämen, bevor sie sich beim nächsten Pfiff zügig auf dem Hof in Reih und Glied aufstellen und dann die Circa- und manchmal auch die Peruhymne singen, während drei der Mädchen die peruanische, die Circa und die Papstflagge hissen. Danach wird das Circa-Motto 2011s gerufen und der rechte Arm mit der Faust nach oben gestreckt (ein bisschen so wie der Hitlergruß).
Noch vor dem Frühstück gibt es jeden Morgen einen Hausputz, in dem die Mädchen in ihren Gruppen zusammen arbeiten. Die ganz Kleinen (2-6 jährigen) werden verzweifelt versucht von mir in Schach gehalten zu werden, während Daniela und Maria die vollgepinkelten Hosen und Schlafanzüge im Bach waschen.
Zum Frühstück gab es immer Milch und Brötchen (mit oder ohne Wurstbelag) und gleich danach ging es dann bis zum Mittagessen, dass meistens aus Suppe, Reis und Gemüse bestand, an den Strand. Direkt nach dem Mittagsessen gab es immer eine Stunde Mittagspause, in der sich alle Kinder in ihren Zimmern aufhalten mussten. Das Nachmittagprogramm variierte: Ein Gang zum Spielplatz, ein Malwettbewerb oder Zeit einen Tanz, ein Lied und ein kleines Theater für den letzten Abend vorzubereiten. Das Abendessen bestand manchmal nur aus Milch und Brot, an anderen Tagen gab es dafür eine ganz normale große Mahlzeit. Nachdem jedes Kind sein Geschirr selbst abgewaschen hatte, der Boden und die Tische gewischt waren, war auch schon gegen 20 Uhr Nachtruhe, dass am nächsten Morgen alle ausgeschlafen ihren Tag wieder um 6 Uhr beginnen konnten.

Am Strand

Mit unserer Circa- Fahne, einem Sonnenschutz und unseren Badesachen ging es also jeden Vormittag an den Strand. Aufgrund eines Erdbebens in Chile in der vergangenen Woche waren die Wellen im peruanischen Pazifik besonders hoch und somit auch etwas gefährlich. Unter der Aufsicht von Rettungsschwimmern durften trotzdem fast alle Kinder alleine ins Wasser. Diese Ferienwoche ist für die Kinder oft nur die einzige Gelegenheit im Jahr zu baden und so waren sie teilweise stundenlang im Meer, sprangen lachend und kreischend über die Wellen und plantschten im Wasser (Schwimmen kann so gut wie keiner!).
Als einzige Weise am Strand wurde ich oft von dem Rest der Strandbesucher beobachtet und als den Kindern das auffiel, legten sie mir liebevoll ein Handtuch um die Schultern, „dass sie deinen Körper nicht anschauen können, Señorita Judith“. Dass ich aufgrund meiner Hautfarbe so beobachtet wurde, kam mir auf einmal wieder so fremd vor, obwohl ich mich in Arequipa doch schon so daran gewöhnt hatte. Das lag daran, dass ich diese ganze Zeit nur mit Kindern und Betreuern von Circa zu tun hatte, für die ich ganz normal bin, wie jeder andere Peruaner. Und da hatte ich ganz vergessen, dass aufgrund meiner Hautfarbe eben doch von den meisten Peruanern anders wahrgenommen werde.

„Schau mal du bist braun geworden! Wie hässlich!“

Diesen Satz habe ich in dieser Woche gefühlte tausend Mal gehört. So wie wir als Europäer versuchen durch Sonnenbaden und manchmal durch Solariumbesuche brauner, schöner zu werden, versuchen die Peruaner hier mit allen Mitteln das zu verhindern. Umso so heller die Hautfarbe einer Person hier ist, umso schöner ist diese Person und so werden stärkste Sonnencremes aufgetragen und man versucht sich durch sein Handtuch oder das Sitzen im Schatten ständig von der Sonne und seinen Auswirkungen zu schützen. Ich wurde teilweise belächelt und vielen Kindern war es unverständlich, als ich mich darüber ärgerte nicht so schnell braun zu werden wie der Rest. Erst nach einer ausführlichen Erklärung wie das in Deutschland ist, konnten sie mich ein bisschen besser verstehen und auch meine Chefin Alicia meinte gestern: „ Wir sind nie zufrieden. Wir Peruaner wollen so weiß und dünn wie ihr sein, aber wir können nicht. Und ihr wollt eine dunklere Haut, könnt das aber auch nicht haben.“

Musik, Tänze, Auftritte


Bei Circa ist es schon fast eine Tradition, dass bei jedem besonderen Ereignis oder Fest, die Kinder eine Showeinlage aufführen. So wurden auch in dieser Woche manchmal mehr und manchmal weniger fleißig traditionelle Tänze, das Schneewittchenmärchen, eine Geschichte aus der Bibel oder ein erfundenes Stück, das meistens eine biblische Nachricht hatte, eingeübt. An unserem letzten gemeinsamen Abend wurden dann die großen Boxen mit den Verkleidungen hervorgeholt und jeder durfte sich ein Kleidchen heraussuchen, bevor jede Gruppe ihr Stück vorführte.

Für mich war diese Woche bisher meine intensivste Woche in Peru. In den sieben Tagen hatte ich die Zeit viele neue Namen zu lernen. Durch den ständigen Kontakt mit den Kindern, konnte ich sie, ihre Persönlichkeiten und ein wenig ihrer Geschichte näher kennenlernen. Endlich weiß ich von vielen Kinder, ob und wen sie als Geschwister in anderen Kinderheimen haben und so kann ich in Zukunft versuchen ihre Begegnungen zu unterstützen. Jedes Kind braucht eine etwas andere Zuwendung und ich kann nach dieser Woche sagen, dass ich das besonders bei den Kleinsten geschafft habe. Luis kann man durch Hopper, Hopper Reiter animieren seine Suppe aufzuessen, Sebastian liebt Rechenaufgaben, Frank ist begeistert von Klatschspielen und RubÍ muss bei ihrem ständigen, traurigen Blick durch viel Lachen aufgemuntert werden. Alle dieser Kinder brauchen viel, viel Liebe, die jedem Einzelnen leider bei Circa oft nicht gegeben werden kann.
Viele der Kinder habe ich in dieser Woche fest in mein Herz geschlossen und der Gedanke, dass mir mit ihnen nur noch fünf Monate bleiben, macht mich schon jetzt ein wenig traurig.